Erotik des Hörens

Erotik ist etwas, was den Menschen nicht von Anfang an nach der Geburt begleitet, sondern im Laufe der frühen Jahren irgendwann interessant wird. Eigentlich beginnt es erotisch zu werden wenn junge Leute in einer bestimmten Lebensphase plötzlich Interesse am anderen Geschlecht finden. Nämlich: Es ist nicht nur Interesse da, sondern auch Entdeckungsfreude.

Es geht um mein Hören, welches schon von Kindesbeinen an nicht das beste gewesen ist. Um in diesem Artikel nicht gleich zu Anfangs in langweilige Euphorie wegen meiner beiden Cochlea-Implantate (CI) zu verfallen, möchte ich die Nichterotik des Hörens nennen. Wir können ja schon vor der Geburt hören. Da ist scheinbar nicht viel aufregendes dran.

Aber ich sehe bei unserem 2 ½ jährigen Enkel, daß er sehr gut hören kann. Dies ist in den Momenten zu bemerken, daß er sich bei meist zu lauten hochtonigen Vorgängen die Ohren zu hält. Oder sich mit Begeisterung die Ohrenschützer aus meiner Werkstatt über die Ohren klemmt, wenn es ihm in der Wohnung z.B. beim Staubsaugen zu laut wird.

Aber viel interessantere ist, wenn er in ruhiger Umgebung plötzlich die Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger hochhält und mit einem verzückt aufmerksamen Gesichtsausdruck „was ist das?“ ruft.

Wenn ich jetzt mit 60 Jahren Rückschau halte, kann ich die gehört-gelebte Zeit praktisch Dritteln. Die ersten 30 Jahren Quälerei mit mehr oder weniger in der Schublade liegenden Hörgeräten. Die weiteren 30 Jahre die sich mehrenden Hörerfolge nach Gründung des Schwerhörigenvereines in Bielefeld und der seit etwa 1980 immens zunehmenden Möglichkeiten durch Technik. Die weiteren Jahre praktisch in der Zukunft liegend und vorausschauend hoffentlich wohl dazu dienend weitere kommunikative Höhenflüge zu erleben.

Meine ältesten Erinnerungen sind die Diktate in der Volksschule, wo ich im Diktat die nicht verstandenen Worte im Text in der Hoffnung ausgelassen habe, daß ich das Wort bei der Wiederholung wohl schon verstehen und damit im Text einfügen könne.

Und damals führte ein Lehrer sozusagen Wettrechnen durch. Wer zuerst die mündliche Aufgabe beantworten konnte, durfte nach Hause gehen. Natürlich war ich meistens der letzte, welcher antworten konnte.

Am schlimmsten in Erinnerung habe ich das Gedicht

Der Postillion

von Nikolaus Lenau

Wie weit die Klasse das Gedicht auswendig lernen sollte, weiß ich nicht mehr. Aber bei dem Text

Rauherr war mein Postillion,
Ließ die Geißel knallen,
Über Berg und Tal davon
Frisch sein Horn erschallen.

forderte mich der Lehrer auf, diesen aufzusagen. Ich verhaspelte mich vor Aufregung total und wäre aufgrund des Gelächters der Klasse am liebsten im Boden versunken. Denn ich tat alles, um nicht irgendwie kommunizieren zu müssen und in der Regel gelang mir das auch.

Erst im weit fortgeschrittenen Erwachsenen alter sprachen mich die Eltern eines Mitschülers auf die Schulzeit an. Der Sohn hatte sich bei den Eltern über meine mißliche Lage in der Schule beklagt, daß ich so benachteiligt wäre.

Und im Konfirmationsunterricht nörgelte der Pastor, als ich glaubte, am schönsten mitzusingen, daß ich brummen würde. Fortan habe ich nie mehr gesungen und allenfalls nur noch die Mundbewegungen mitgemacht.

Jahrelang habe ich nachdenken müssen, was denn Gerd Wendlandt an der Dame namens Marina zu besingen hatte, denn was konnte es denn mit ihrem „Tschiek und Tschak“ (Chic und Charme) auf sich haben? Es gibt noch viele andere Wort-Begebenheiten, welche mich dauernd zu Ihrer Bedeutung zum rätseln brachten, was das denn da heißen möge.

Eigentlich hatte ich in Deutsch und der Bedeutung der Worte keine Probleme, denn ich las recht viel.

In der Handwerksmeisterausbildung verwechselte ein Lehrer die Unterrichtsstunde mit dem Sonntagsspaziergang in der Klasse. Hier sah ich mich genötigt, ihn zu bitten, daß er doch vorne am Pult seinen Vortrag halten möge. Dieser lief rot an und fauchte mich an: „Sie, Sie, Sie nageln mich hier nicht fest!

Lehrerwechsel waren ständig eine Paniksituation, weil ich mich dauernd auf andere Mundbilder und eben auch Personen einstellen mußte. Und ich hatte keinen blassen Schimmer, daß ich auf Mundabsehen überhaupt angewiesen war und wie meine Kommunikation eigentlich „funktionierte“.

Im Nachhinein bin ich meinen wenigen stellvertretend genannten Lehrern, den Herren Vorndamme und Dr. Schumacher dankbar, daß sie meine Schwerhörigkeit nie zum Anlaß von demütigenden Äußerungen genommen haben und immer vorne am Pult wie festgenagelt standen oder saßen. Dabei haben die genannten Herren auch den weiteren Vorteil besessen, daß ich eigentlich immer sicher sein konnte, daß der Stoff auf die vorangegangenen Stunde aufbaute.

Unbewußt habe ich zu der Zeit die gesprochenen Worte von den Lippen abgelesen. Herrn Vorndamme habe ich in besonders guter Erinnerung, denn „Erfolgserlebnisse“ hatte ich bei ihm erstmals so richtig in der Berufsschule. Viel später habe ich ihn besucht um zu ergründen, warum ich ihn so besonders gut verstanden habe. Er erklärte mir, daß er zu Referendarszeiten Sprachunterricht genommen hatte, um nicht durch das Sprechen im Beruf vorzeitig zu ermüden.

Ansonsten konnten Lehrerwechsel für mich nur als Panik begriffen werden.

In den Berufsausbildungen habe ich sehr viel Geld für Fachbücher und Fachzeitschriften ausgegeben, damit ich den Stoff noch aus anderen Quellen für mich erarbeiten konnte. Vieles hatte ich ja nicht verstanden und so wußte ich dann eben auf diesem Wege noch eine ganze Menge mehr. Auch habe ich gelegentlich nicht mitbekommen, daß ein Test oder eine Arbeit angesagt war. Diese Anlässe konnte ich dann mit dem angesammelten Wissen aus den Büchern zur Not noch überstehen. Fragen habe ich nie gestellt und Fragen der Mitschüler konnte ich gar nicht erst verstehen. Meine Strategie war auch, daß ich fleißig alles mitgeschrieben habe, was ich an Wort und Schrift (an der Tafel) mitbekommen konnte. Dies fiel mir umso leichter, als daß ich lange zuvor in der Handelsschule Stenografie gelernt hatte. Nach der Schule saß ich dann stundenlang am Schreibtisch und arbeitete den Stoff auf, indem ich insbesondere Formeln mit meiner elektrischen Schreibmaschine fein säuberlich aufschrieb und sortierte.

Meine jahrelange gelinde gesagte Abneigung gegen die Lehrerschaft konnte sehr spät nur durch mein Vereins- Engagement zusammen mit dem sehr engagierten Lehrer Herrn Brechmann überwunden werden.

Nicht vergessen möchte ich aber Gerhard Stuckmann, welcher als mein Lehrmeister immer ein Auge auf mich hielt und darüber wachte, daß ich in der Firma nicht „unterging.“ Aber auch Manfred Niebuhr, mit welchem ich jahrelang auf Baustellen sowohl bei Eiseskälte als auch in Sommerhitze zusammengearbeitet habe. Manfred sagte einmal, „er müsse mich gegenüber den Kollegen schützen“. Damals habe ich nicht begriffen, was er meinte. Und Gerhard Stuckmann sagte mir „Wirf Dich nicht weg“. Damit meinte er, ich solle meinen Wert im handwerklichen Können nicht unter den Scheffel stellen weil er sah, daß ich mein Hörhandicap durch handwerkliches Geschick auszugleichen wußte.

Erfreuliches und Erotisches hören war in diesem Zeitraum mit vielen Ausbildungszeiten durchaus nicht angesagt und die Versorgung mit den beiden CI ab dem Alter von 54 und 57 Jahren kann als erotischen Hör-Quantensprung bezeichnet werden. Das bisherige Dasein kann eher als visuelles handwerkliches Bemühen/Schaffen dargestellt werden. Ich wäre durchaus heute fähig, höhere Ausbildungsweihen zu erlangen, welche ich mir seinerzeit nicht mal zu träumen wagte. Die FM-Technik fing Ende der 70er Jahre gerade an, sich einen Markt zu erobern, als meine letzte Ausbildung beendet war. Ob ich es jetzt versuchen sollte, den Traum eines Fracht- oder Tankschiffskapitäns zu verwirklichen? Ich denke: Lieber nicht. Was soll ich denn machen bei Sturm Wind und Regen auf dem Deck und die CI´s fliegen womöglich über Bord.?

Ich entdecke beim Hören und Verstehen mit meinen beiden CI auch nach langer Zeit und lange Zeit nach den Erstanpassungen immer wieder Momente, welche tatsächlich erotisch auf mich wirken. Denn ich erhöre und erfahre immer wieder neue Eindrücke, welche ich vorher nicht kannte oder erleben konnte. Es sind Momente, in welchen ich innehalte.

Genauer gesagt, begann die Erotik des Hörens so richtig während meiner CI-Reha anläßlich der Reha meines 2. CI in St. Wendel im Sommer 2008. Mit Herrn Bellagnech als CI-Ingenieur habe ich intensiv an den Einstellungen der beiden CI gearbeitet. Und er war auch mit Begeisterung bei den Einstellungen dabei. Die Mitpatienten tauften mich schon als Klinkenputzer weil ich mich nicht an die Termine im Behandlungsbuch hielt und jede Gelegenheit suchte, mit Herrn Bellagnech zu arbeiten.

Bei einigen Einstellungen von Mitpatienten durfte ich dabei sein und konnte so erfahren, wie schwer manchem die Mitarbeit gefallen ist. Aber ich war auch dabei, als bei einigen Personen bestimmte Einstellungen vorgenommen wurden und den Betroffenen ein unbeschreiblicher freudiger Gesichtsausdruck zu entnehmen war. Herr Bellagnech ist eigentlich für diese, seine Erfolgserlebnisse total zu beneiden.

Wichtig waren in der Reha die Laute, welche in Ruhe auf mich einwirkten. Sei es im nahe gelegenen Wald die Vogelstimmen oder unten neben dem Wald die vorbeifahrenden Autos. Natürlich sind auch die Höreindrücke z.B. in dem Speisesaal oder beim abendlichen Zusammensein wichtig, um Einstellungen zu bearbeiten. Auf die Nerven gingen mir im Wald aber die Nordic Walker, welche nichts anders zu tun hatten, als mit ihren Stöckern auf den steinigen Waldwegen herumzustochern.

Oft waren in St. Wendel vor allem nachts Gewitter. Der Nachhall der Donner zu der oben am Berg liegenden Klinik war imposant. Feststellen konnte ich, daß das Saarland praktisch von morgens bis abends durch die schweren Bomberflugzeuge lärmvermüllt ist. Man sah die Flugzeuge zwar nicht, aber sie waren nicht zu überhören. Interessant ist gewesen, daß ausgerechnet der kleine Kliniktraktor gelegentlich mit einem Höllenlärm über das Gelände tuckerte. Auch das wußte ich zu nutzen um die CI-Einstellungen zu prüfen und mit Herrn Bellagnech zu überarbeiten. Große Bedeutung messe ich der Tatsache bei, daß die CI-Einstellungen auf beiden Seiten im Hörempfinden fast gleich eingestellt werden konnten.

Laut Wikipedia wird Erotik so beschrieben:

Die Intensität der „erotischen Ausstrahlung“ bzw. der „erotischen Signalen“, die andere Menschen „senden wird keineswegs nur durch den bloßen Anblick eines möglichst hohen Grads von Nacktheit eines menschlichen Körpers bestimmt, vielmehr könen auch Sprachmelodie und Färbung (….) Erotik erzeugen.

Nun-, das möchte ich anhand einiger Beispiele erklären, was denn nun beim Hören und Verstehen erotisch ist.

Seit Jahren besitze ich eine in jungen Jahren aus Dänemark geschmuggelte antike Wanduhr. Lange hatte sie funktioniert und irgendwann ging im wahrsten Sinne des Wortes nichts mehr. Als ich über die beiden CI verfügte, bequemte ich mich endlich, sie zum Uhrmacher zu bringen. Er brachte sie wieder zum „ticken“ und im Halbstundentakt zu schlagen. Aber damit war ich nicht zufrieden weil es so blechern klang und reklamierte dies erfolglos beim Uhrmacher. Allerdings bemerkte ich dann zunehmend, daß die Schläge der Uhr immer mehr wohlklingender wurden und ich begeistert dem letzten Schlag und dem Nachhall für Sekunden zu lauschen bestrebt bin.

In diesen Tagen bin ich mal wieder auf dem regelmäßigen wöchentlichen ComputerTreff gewesen, bei dem computerbegeisterte Herrschaften fortgeschrittenen Alters versuchen, den Treff am Leben zu halten. Denn der bisherige Leiter und Initiator des Treffs ist plötzlich gestorben. Nun ist guter Rat teuer, wie es denn nun weitergehen soll. Da fällt mir auf, daß ich in dem Kreis ganz locker bei den Beratungen kommunikativ mithalten kann. So gesehen ist mir das in meinem Leben noch nie passiert, Also ohne weitere Technik wie FM-Sender und Empfänger unter Guthörenden bei den Beratungen einbezogen zu sein und nicht resignierend außen vor zu stehen und dann sich zurück zu ziehen.

Neulich hielt ich mich im Frühjahr auf einem Sonntag im Garten auf und bewundere unsere Wildblumenrasenwiese. Während ich mich an den Blumen erfreue, kommt mir immer mehr deutlich ein unregelmäßiges Glockenspiel zu Ohren. Als ich so lausche und um die Hecke herum gehe, stelle ich verblüfft fest, daß dies ein Windglockenspiel des Nachbars auf der anderen Straßenseite ist. Dabei weht der Wind gar nicht in meine Richtung, sondern trägt das Geräusch des Glockenspieles genau in die andere Richtung. Daß ich das hören konnte war schon ein Wunder. Das Glockenspiel hatte ich vorher nur dann zu hören bekommen, wenn ich beim Nachbarn direkt an der Tür gestanden habe.

Eigentlich stelle ich das Autoradio nur wg. meiner Lieblingsmusik auf der Kassette an. Früher war ich mit einem Kabel bewaffnet mit den Hörgeräten am Radio angeschlossen, um überhaupt Verkehrsdurchsagen verstehen zu können. Mit den CI ist das alles Schnee von vorgestern. Ich verstehe doch tatsächlich die Verkehrsdurchsagen von vorne bis hinten. Dabei kann ich sogar geistig abschalten, wenn ich ich nicht auf der Autobahn bin und mich die Durchsagen auch gar nicht interessieren. Das gleiche gilt für das neumodische Navigationsgerät. Den Ansagen der netten weiblichen Begleitung kann ich locker folgen. Streßfreies und entspanntes Autofahren ist heute angesagt. Nur eine Kleinigkeit gibt es als Frage: Sind das nun „vier km“ oder „viele km“ welche da angesagt sind?

Viel aufregender ist, wenn ich einen guthörenden Mitreisenden im Auto habe und plötzlich höre ich das Warnsignal von Feuerwehr oder Polizei zuerst und mache mit den PKW „freie“ Fahrt für das Einsatzfahrzeug. Aber ich bemerke auch, daß die anderen Autofahrer langsamer reagieren! Sogar orten kann ich die Richtung, aus der die Signale kommen.

Nun bin ich Vermieter von Wohnungen, bzw. ich bin geschäftlich ein wenig aktiv. Da ist es mir mit Hörgeräten und teurer Technik schon schwer genug gefallen, bei Anruf erst mal zu ergründen wer angerufen hat und um was es geht. Zuletzt war es dann mit Hörgeräten so, daß ich erst mal auf dem Telefondisplay die Telefonnummer des Anrufenden anschaute. Wenn mir diese nicht bekannt war, wurde der Computer und die damals -verbotene- Rückwärtssuche gestartet um den Anrufer zu erkunden. Erst dann habe ich zurück gerufen!

Bei der Wohnungsvermietung stelle ich fest, daß, zunehmend Migranten sich für eine Wohnung interessieren. Die rufen meistens per Handy an und da ist mit Rückwärtssuche nichts zu machen. Nicht, daß zu Hörgerätezeiten keine Migranten anriefen. Aber da mußte ich doch nicht selten passen und das Gespräch beenden, weil ich nicht verstehen konnte. Die Handysprachqualität ist ja nicht immer die beste! Die Anrufer kann ich heute mit den beiden CI doch tatsächlich (fast) ohne weiteres verstehen und Vereinbarungen treffen. Fast heißt, daß es durchaus Anrufer gibt, welche selbst von Guthörenden in der Familie nicht verstanden werden.

Allerdings muß ich deutlich darauf hinweisen, daß ich nach wie vor mit der seit Hörgerätezeiten erfolgreich eingesetzten stationären FM-Anlage von beyerdynamic nebst Induktionsschlinge auf beiden CI gleichzeitig arbeite. Das hören auf beiden Ohren geht einfach bequemer vonstatten und die Umstellung auf „T“ kann ich schon beim Betreten meines Büros erledigt haben.

Ja-, und im Supermarkt ertönt doch tatsächlich „Only the lonely“ von Roy Orbison und ich achte auf das Sonderangebot des sonst so teuren Whiskeys, welchen mir der Sprecher wärmstens empfiehlt. Und im vorbeigehen sagt ein Mann zu seiner Frau: „Also, das kostet hier Eineurofuffzig“

Und was ich noch am aufregendsten finde, wenn ich an der Kasse stehe und weiß, daß die Leute hinter mir rätseln, was denn da so am Kopf zu sehen ist. Das ist mir zu Hörgeräte-Lebzeiten nicht passiert.Die Hörgeräte waren mir einfach zu peinlich. Ich nehme heute mal an, daß das daran gelegen hat, daß ich eben doch nicht so gut damit kommunizieren konnte wie jetzt mit den beiden CI. Denn ich brauche zu keiner Zeit zu befürchten, irgendetwas beiläufiges der Kassiererin nicht verstanden zu haben und einen verwirrten Eindruck zu hinterlassen. Ganz locker kann ich mich in Gesprächssituationen auch im Störschall begeben.

Radio hören ist in unserer Familie nicht angesagt, sodaß ich dazu keine Hinweise geben kann. Sehr wohl aber zum Fernsehen. In fremden Sprachen gesprochene Beiträge schaue ich ungern an. Sie sind zu ertragen, wenn Untertitel vorhanden sind. Allenfalls die Nachrichten sind für mich nicht oft verständlich. Es sei denn, die Lautstärke ist etwas über „Zimmerlautstärke“. Aber das will ich nicht.

Lösung ist eine FM-Anlage von beyerdynamic oder eine Phonak Smart-Link. Die FM-Anlage ist die gleiche Technik, welche ich beim telefonieren benutze. Nur auf einer anderen Frequenz. Die Smart-Link Anlage nutze ich nicht, weil diese mit an den beiden CI gekoppelten FM-Empfängern gekoppelt ist und Störungen durch „weißes Rauschen“ sind weder von Cochlear noch von Phonak in den Griff zu bekommen. Auch ist die Lautstärke nicht einstellbar sowie der Klang nicht angenehm.

Allerdings habe ich auch sehr gute Erfahrungen mit der CM-1 von Humantechnik gemacht. Diese ist nicht als störanfällig zu nennen wie die Technik von Phonak und auch wesentlich preiswerter.

Als ich mein erstes CI einige Tage schon hatte, kamen die Nachbarn auf mich zu, ob ich nicht wegen eines Bürgerbegehrens in der Nachbarschaft und auf einer Versammlung ein Protokoll und Protestschreiben aufsetzen könne. Das habe ich doch tatsächlich mit einem Laptop und Beamer in Realtime mit Bravour auch mit Hilfe einer FM-Anlage geschafft.

Diese durchaus erotischen Eindrücke sind wie eine kommunikative Neugeburt. Denn all die vorgenannten Begebenheiten kannte ich in meinem vorigen Leben ohne CI nicht. Hier bin ich wohl zwar nicht scheu, aber doch kommunikativ eingegrenzt vorgegangen. Sei es, daß ich, weil ich nicht telefonieren konnte, dann eben mit dem Auto zu einem Adressaten gefahren bin. Oder daß eben schlicht jemand anderes für mich irgendwas am Telefon geklärt hat.

Letzteres kann ich aber nicht gerade als erhebend finden, weil ein anderer nicht nur beim telefonieren eben doch nicht in meinem Sinne handeln kann und vielleicht nicht darf. Jedenfalls nicht professionelle Leute, welche stur nach Aktenlage und Gesetzeslage handeln müssen, um nicht selber in juristische Nöte zu kommen. Ein Sozialberufler meinte gar so um 1984 herum „Überlassen Sie die Sache mal mir, schließlich habe ich studiert!“ Da kann ich getrost so handeln, wie ich das für richtig und für mich verantwortbar halte und bin nicht auf andere angewiesen. Mit dem telefonieren habe ich erst etwa im Alter von 34 Jahren angefangen. Also nach Mitgründung des Schwerhörigenvereins.

Allerdings habe ich um das 2. CI  jahrelange gerichtliche Auseinandersetzungen mit der Krankenkasse gehabt. Aber das war noch das geringste Problem, denn in einer digitalen Selbsthilfegruppe mit 7 anderen Gleichbetroffenen haben wir alle gewonnen.

Erotik ist also etwas wunderbares und hat nichts mit den plumpen Darstellungen zu tun, welche es Nachts im Fernsehen zum durchzappen zu sehen gibt. Ich glaube nicht, dass ich ein schlechterer Mensch war, als ich noch zu Hörgerätezeiten schlecht hörte und verstand.

Nicht vergessen möchte ich den Hinweis, daß ein oder zwei CI nicht bei jedem hörgeschädigten Menschen durchschlagenden Erfolg zeigen. Es gibt durchaus CI-versorgte Menschen, welche auch mit CI mittelgradig oder hochgradig schwerhörig sind. Dies ist jedenfalls immer noch besser, als Ertaubt keine oder kaum Kommunikation betreiben zu können. Jedes CI wird individuelle Erfolge zeigen. Es gibt allerdings auch CI-versorgte Menschen, wo das CI sogar keinen Hörerfolg zeigt. Um es noch deutlicher zumachen: Ein CI ist und bleibt eine Prothese und ersetzt keinesfalls naturgemäßes Gutes Hören!

wer seid ihr denn

wer seid ihr denn

dass ihr wisst

wie

mit meiner Schwerhörigkeit

umzugehen gewesen wäre?

sie war nie erwünscht.

keine Möglichkeit,

sie auszuladen.

ein Schatten

an meiner Ferse hängend

mir folgend

bis in die geheimsten Winkel

meiner selbst.

versteckt

ein tiefer Schmerz

den ich

verberge.

sie nahm mir

die Möglichkeit

ganz gewöhnlich zu sein:

sie machte mich

ungewollt anders.

das ist jetzt vorbei

Nach Gurtner, Sybille: „wer seid ihr denn“. In: Gurtner, Sybille und Lie, Remie (Hrsg.): Zwischentöne, Frauenfeld (eH), 1997, S. 51

kursiv, fett und unterstrichen von mir eingefügt.

Hermann W. Aufderheide

Bielefeld im Juli 2009

Eingestellt von Hermann W. Aufderheide

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