„Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?“

Ärzte und Ärztinnen könnten noch mehr auf Selbsthilfegruppen hinwei­sen
Liebe Frau Doktor, lieber Herr Doktor,
ich bin wirklich froh, dass ich bei Ihnen in der Behandlung bin.
Ich weiß, dass Sie Ihre Diagnosen erst nach sorgfältiger Untersuchung und mit Bedacht stellen und schätze Ihre einfühlsame Art.

So war es auch, als Sie mir mitteilten, wie es um meine Gesundheit steht. Ich hatte ja schon damit gerechnet – aber dann traf es mich doch wie ein Schlag. Natürlich hatte ich volles Vertrauen in die The­rapie, die Sie mir vorschlugen und das war die einzige Hoffnung, an die ich mich klammerte.

Allerdings muss ich sagen, als ich aus Ihrer Praxis herauskam, war es dahin mit meiner Zuversicht. Ich fühlte mich entsetzlich allein. Meine Familie bestürmte mich mit Fragen, die ich gar nicht beantworten konnte und es machte sich Angst in mir breit.

Es war mir peinlich, mit Freunden darüber zu sprechen und meiner Familie wollte ich nicht mit meiner Unsicherheit kommen. Das war eine sehr belastende Situation und die knappe Zeit in der Sprechstunde reichte selten aus, um all meine Fragen zu beantworten. Gelegentlich war es mir unangenehm, immer wieder nachzufragen, wenn ich nicht verstand, was Sie mir erklärt hatten. Manchmal hab ich auch erst gar nicht gefragt, weil ich Ihnen nicht zeigen wollte, dass ich so unsicher war. Ich suchte mir mühsam Informationen über meine Erkrankung zusammen – es war ja alles Neuland für mich. In dieser Zeit fühlte ich mich einsam und niedergeschlagen und wünschte mir sehr, mit jemandem auf Augen­höhe reden zu können. Wie würde die Zukunft für mich aussehen? Würde ich jemals wieder gesund oder beschwerdefrei werden? Wie sollte ich bloß mit der Erkrankung umge­hen und was könnte ich selbst tun, um meine Situation zu verbessern?

Es war schon einige Zeit vergangen, da lernte ich jemanden kennen, der ganz unbefangen zugab, dass er diese Krankheit auch hat. Von ihm erfuhr ich, dass es an meinem Wohnort eine Selbsthilfegruppe gibt. Das erstaunte mich sehr, denn ich hätte nicht gedacht, dass es überhaupt so viele Betroffene gibt. Auch war ich verblüfft, dass die sich regelmäßig trafen! Ich fragte mich, worüber die miteinander redeten – über die Probleme zu spre­chen, die ich hatte, fiel mir in meinem Bekanntenkreis immer noch schwer und ich hatte oft das Gefühl, dass man mir nur aus Höflichkeit zuhörte und nachfragte. Ich brauchte noch eine Weile und dann ließ die Neugier mich nicht mehr los. Ich wollte wissen, was bei diesen Treffen passierte und ob ich auch etwas davon haben würde. Beim ersten Gruppentreffen erlebte ich eine große Überraschung.

Ich wurde herzlich aufgenommen und die übrigen Teilnehmer stellten sich mit ihrem Namen und ihrem Behandlungsstadium vor. Ich war zuletzt dran und mir steckte ein Kloß im Hals. Aber ich schaffte es, meine Krankheit auszusprechen – und dann war alles ganz leicht. Das Interesse der anderen Teilnehmer tat mir so gut! Und ich konnte endlich alle Fragen stellen, die mich bedrückten und hörte von den anderen, dass sie genau die gleichen Gedanken hatten. Die gleichen Zweifel, die gleichen Schwierigkeiten mit der Familie, den Kollegen, den Freunden und im Alltag – und ähnliche Ängste wie ich. Manche

hatten diese sogar schon überwun­den und beeindruckten mich durch ihre Lebensfreude. Und es gab schon gleich jede Menge Tipps, die mir mein weiteres Leben ungemein erleichter­ten. Seit ich zu den Treffen gehe und mich mit anderen Betroffenen aus­tauschen kann, habe ich wieder Mut gefasst. Durch den Kontakt mit den anderen Teilnehmern bin ich selbst­bewusster im Umgang mit meiner Erkrankung geworden und habe viel Lebensqualität gewonnen. Wir sam­meln die Informationen gemeinsam und tauschen unsere Erfahrungen aus und genießen das Gefühl, nicht allein da zu stehen. In der Gruppe werde ich aufgefangen, wenn mich der Mut mal wieder zu verlassen droht.

Ich frage mich nur, warum haben Sie mir damals nicht gleich gesagt, dass sich andere Betroffene in solchen Gruppe zusammen tun? Warum habe ich erst so spät und nur zufällig davon erfahren?

Im Nachhinein hätte ich mir gewünscht, schon früh von Ihnen einen Hinweis auf Selbsthilfegruppen zu bekommen. Ich hätte mir durch den frühen Kontakt viele Unsicherhei­ten und Grübeleien ersparen können.

Dieser Brief, liebe Frau Doktor, lieber Herr Doktor, soll Ihnen vor Augen führen, dass Medizin zwar den Körper gesund macht und Leiden lin­dert, aber noch lange nicht die Seele heilt. Bitte denken Sie daher bei Ihren nächsten Patienten daran, auf die Chancen der Selbsthilfe hinzuweisen.

Viele Grüße,

Ihr Patient/Ihre Patientin

 

Die Idee zu diesem Brief entstand bei einem Erfahrungsaustausch-Treffen für Selbsthilfegruppen-Mitglieder, das die Selbsthilfe-Kontaktstelle Dortmund organisiert hatte. Die Teil­nehmenden bedauerten die Tatsache, dass noch immer zu wenig Ärzte und Ärztinnen auf Selbsthilfegruppen hin­weisen – sei es aus Nicht-Wissen, sei es, weil es im Praxisalltag untergegangen ist. Zwei Frauen aus unterschiedli­chen Selbsthilfegruppen verabredeten sich kurzerhand und verfassten für das FORUM, das Selbsthilfe-Magazin für Dortrnund, diesen Brief.

Der offene Brief erschien unter dem Titel „Warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt?- Ärzte und Ärztinnen können noch mehr auf Selbshilfegruppen hinweisen“ im örtlichen Selbsthilfemagazin FORUM 372008, welches im November 2008 von PariSozial Dortmund gGmbH, dem Träger der Selbsthilfe-Kontaktstelle Dortmund herausgegeben wurde.

 

Mit freundlicher Genehmigtung von:

 

DER PARITÄTISCHE

S ELBSTHILFE – KONTAKTSTELLE

Dortmund

Friedensplatz 8

44135 Dortmund

Tel.: 0231 529097 www.selbsthilfe-dortmund.de

Dieser Artikel wurde von Hermann Aufderheide eingestellt.

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