Der Traum von der hörgeschädigtengerechten Stadt

Ach, war das schön, ich träumte einen wunderbaren Traum – den Wunschtraum von der hörgeschädigtengerechten Stadt.
Denn bisher wurden in der Kommunalpolitik unter dem Begriff „behindertengerecht“ fast ausschließlich die Belange von Menschen mit Gehbehinderungen verstanden. Die Bedürfnisse anderer Behindertengruppen wie z.B. Sinnesbehinderter (Seh- und Hörgeschädigte, Taubblinde) wurden dagegen meist vergessen und nur sehr selten berücksichtigt.Nun aber hatte ich im Traum erlebt, daß es möglich ist, auf die Bedürfnisse von 14 Millionen Hörgeschädigte einzugehen – so viele Menschen weisen schließlich nach Untersuchungen des Deutschen Grünen Kreuzes (DGK), Marburg, beeinträchtigende Hörschäden auf!
Was war geschehen in der Stadt, daß ich sie als hörgeschädigtengerecht empfand?
Überall war zu spüren, daß man sich sehr aktiv mit den Problemen hörgeschädigter Menschen auseinandergesetzt hatte. Es waren in fast allen Lebensbereichen hörgeschädigtengerechte Lösungen erarbeitet worden, gemeinsam mit kompetenten Selbstbetroffenen. Das Leben in dieser Stadt ließ das Gefühl der Ausgrenzung gar nicht erst aufkommen, das uns sonst auf Schritt und Tritt begleitet.
Vor allem waren alle Menschen bereit, sich die für eine erfolgreiche Kommunikation mit einem Hörgeschädigten notwendige Zeit zu nehmen, alle gaben sich Mühe, langsam, deutlich zu sprechen und auch bei mehrmaligen Nichtverstehen eines Satzes geduldig und freundlich zu bleiben und zu wiederholen und notfalls aufzuschrieben. Allein diese Tatsache machte uns das Leben sehr viel leichter, denn es war früher außerordentlich demütigend, ständig um Hilfestellung im Gespräch bitten zu müssen, die dann meist nach kurzer Zeit wieder vergessen wurde. Bewirkt worden war diese veränderte Haltung durch viel Informationen, die vom DSB – dem Deutschen Schwerhörigenbund e.V. – mit Hilfe öffentlicher Unterstützung bis in den entferntesten Winkel Deutschlands bekannt gemacht wurden.
Bahnhof und öffentliche Verkehrsmittel
Schon bei der Ankunft auf dem Bahnhof bemerkte ich die Veränderungen. Auf den Bahnsteigen gab sonst nur Lautsprecher-Durchsagen, nun wurde auf Monitoren zusätzlich schriftlich informiert. So kann einem Hörgeschädigten nicht mehr passieren, daß er den Zug verpaßt, weil er die Durchsage: “Der Zug fährt auf dem Nachbargleis ab” nicht verstanden hat.
Auch in bestimmten Abteilen der Züge war die Ankunft in der nächsten Stadt auf Monitoren zu lesen, so daß man sich rechtzeitig zum Aussteigen fertig machen konnte und nicht die Gefahr bestand, wegen der heute üblichen kurzen Stops versehentlich weiter mitfahren zu müssen. Übrigens waren die Abteile, in denen ein solcher Monitor aufgestellt ist, außen mit einem großen durchgestrichenen Ohr erkennbar.
Busse und Straßenbahnen waren ebenfalls mit einer Laufschrift für die Haltestellenanzeige ausgestattet. Der Clou war, daß man in U-Bahn-Haltestellen Anzeigen installiert hatte, auf denen man sogar lesen konnte, wenn eine Bahn, beispielsweise aufgrund einer Störung oder eines Unfalles, ausgefallen war und wie lange es dauern wird, bis die nächste Bahn kommt.
Bankschalter
Dann ging ich in die Bank, um Geld abzuheben. Vor so etwas habe ich immer einen Horror, weil ich durch die Glasscheiben nichts verstehen kann. Hier aber war es ganz anders: Es gab einen Sonderschalter für Hörgeschädigte, auf den wieder mit einem durchgestrichenen Ohr hingewiesen wurde. Auch andere Behindertenformen wurden dort bedient.
Für uns Schwerhörige gab es eine Induktionsschleife, die im Außenbereich des Schalters verlegt war. Der Bankmensch sprach in ein Mikrofon, und wenn ich meine Hörgeräte auf “T” stellte, konnte ich das Gesagte gut verstehen. Und für Ertaubte und Gehörlose wurde das wichtigste aufgeschrieben, so daß auch sie keine Probleme mehr am Bankschalter hatten.
Öffentliche hörgeschädigtengerechte Telekommunikationseinrichtungen
Genau solche Hilfen gab es übrigens auch bei der Hauptpost. Dort wollte ich telefonieren. Aber das Problem kennt jeder Hörgeschädigte: Nach Ankunft in der fremden Stadt will man kurz telefonisch die Familie benachrichtigen, daß man gut angekommen ist. Normalerweise geht das kaum, da Hörgeschädigte meist nicht oder nur schlecht telefonieren können. Hier aber gab es Hilfestellungen. In einer besondere Telefonzelle wurde ein Telefon mit einer Verstärkungseinrichtung für schwerhörige Menschen angeboten, wobei man natürlich auch an die verschiedenen Anschlußmöglichkeiten (Kopfhörer, Kabel, Teleschlinge, Telefonspule im Hörgerät usw.) gedacht hatte. Spätertaubte und gehörlose Menschen konnten sich entweder ein Schreibtelefon ausleihen oder ein Faxgerät benutzen. Auf diese Weise konnte auch ich meine Familie erreichen.
Da wachte ich auf. Toll, dachte ich schläfrig, was alles geht, wenn man nur will. Ich drehte mich auf die andere Seite, schlief wieder ein und träumte weiter.
Kultureinrichtungen
Es war morgens, so träumte ich, ich las beim Frühstück die Zeitung. Ich las den Kulturteil, dem ich entnehmen konnte, daß es in dieser Stadt verschiedene Kinos gab, in denen untertitelte Filme für hörgeschädigte Menschen gezeigt wurden. Auch waren Stuhlreihen für Hörgeschädigte vorhanden, bei denen die Armlehnen mit Anschlußbuchsen für Kopfhörer oder für Sonderkabel an die Hörgeräte ausgestattet waren.
Im Opernhaus waren bei allen Vorstellungen Übertitel üblich, wie sie sonst nur z.B. bei italienisch gesungenen Opern verwendet werden. Weiterhin konnten Schwerhörige über eine Funk-Übertragungsanlage die Musik hervorragend hören, die Empfangsgeräte waren kostenfrei zu entleihen. Und es gab sogar kleine Geräte, ähnlich wie Laptops, auf deren Display man den Text mitlesen konnte, auch in verschiedenen Fremdsprachen! Das ist ein toller Service, nicht nur für Hörgeschädigte, sondern auch für ausländische Besucher. Zusätzlich zu den üblichen Klingeln, die das Ende der Zwischenpause ankündigen, waren sogar optische Hinweise vorhanden!
Dann ging ich im Traum ins Museum. Normalweise haben wir Hörgeschädigte nichts von Führungen in Museen. Zu meiner Überraschung wurden jetzt besondere Führungen für Hörgeschädigte angeboten: Führungen für schwerhörige Menschen mit Funk-Übertragungsanlagen, für ertaubte Menschen mit lesbaren Infos und für gehörlose Menschen mit Gebärdensprachdolmetschern! Ganz toll!
Und vor allem wurden alle Angebote öffentlich in den Tageszeitungen angekündigt, damit die Betroffenen darüber Bescheid wissen! Dies fand ich besonders bemerkenswert, denn in meinem Heimatort veröffentlichen die Tageszeitungen nur ungern Informationen für Behinderte.
Auch die Freizeitheime waren hörgeschädigtengerecht ausgestattet: eine tragbare Funk-Übertragungsanlage mit ausleihbaren Empfängern sowie ein Overheadprojektor standen überall zur Verfügung.
Behörden
Sogar im Rathaus war es Hörgeschädigten möglich, den öffentlichen Sitzungen zu folgen, hier hatte man ebenfalls eine Funk-Übertragungsanlage beschafft, bei Bedarf wurden Gebärdensprachdolmetscher eingesetzt! In meiner Heimatstadt ist so etwas leider nicht möglich, obwohl wir schon mehrmals versucht haben, eine Verbesserung zu erreichen. Die Lokalpolitiker sind wohl der Auffassung, daß das Informationsrecht für hörgeschädigte Menschen nicht so wichtig ist.
Auch Behördenräume, in die öfter Hörgeschädigte gehen, waren hörgeschädigtengerecht ausgestattet worden. Meist klingt es in den karg möblierten und damit schallharten Büros sehr hallig, so daß Hörgeräteträger große Probleme beim Verstehen haben. Hier aber waren schalldämpfende Maßnahmen (Teppichboden, Gardinen, Tapete, abgehängte Decke, Mobiliar) durchgeführt worden, so daß das Verstehen kein Problem war.
Wieder wachte ich auf. Schaftrunken war ich glücklich wie selten, und nach mehrmaligen Herumwälzen schlief ich erneut ein. Man soll es nicht glauben, der Traum ging weiter!
Krankenhaus
Leider stolperte ich beim Spaziergang in der Stadt, brach mir den Arm und mußte ins Krankenhaus. In der Anmeldung gab es keinen Namensaufruf per Lautsprecher, sondern einen Nummernaufruf mit gleichzeitiger Anzeige. Das war auch vor der Röntgenkabine der Fall – wie schön, denn schon oft hatte ich unnötig vor solchen Kabinen gewartet, weil ich meinen Namensaufruf nicht verstanden hatte.
Sogar das Patientenzimmer war hörgeschädigtengerecht – es gab eine Lichtklingel für das Betreten des Zimmers (statt anklopfen, was ich nicht hören kann) und auch eine Lichtklingel für das Telefon! Auch wurden hier Telefone mit Verstärker sowie Schreibtelefone und Faxgeräte angeboten. Und sogar der Fernseh- und Rundfunkton war mit einer entsprechenden Infrarot-Übertragungseinrichtung für schwerhörige Menschen gut zu verstehen. Zusätzlich war der Fernseher mit einem Videotextdecoder ausgestattet, so daß ich untertitelte Filme sehen konnte!
In diesem Krankenhaus gab es sogar für Menschen, die durch eine Krankheit, Unfall o. dgl. schwerhörig oder taub geworden sind, aber auch für Eltern hörgeschädigter Kinder, einen speziell ausgebildeten Sozialarbeiter, der auf alle bestehenden Hilfsmöglichkeiten (Kuren, Reha-Maßnahmen, Selbsthilfegruppe für Hörgeschädigte, Hörgeschädigtenverein, Beratungsstelle für Hörgeschädigte) hinwies und Hilfen bei Antragstellungen (z.B. für die Anerkennung der Schwerbehinderung) gab.
Einrichtungen für hörgeschädigte Kinder
Das tollste war für mich, daß es Einrichtungen für Früherkennung und Frühförderung hörgeschädigter Kinder gab, wie auch besondere Kindergartenplätze, wo „normale“ Kindergärten nicht sinnvoll erscheinen. Natürlich wurden hörgeschädigte Kinder in einer Sondereinrichtung unterrichtet, da man nur dort die notwendige Zeit und Kompetenz für eine angepaßte Kommunikation hat.
Unterkunft im Hotel, Leben im Seniorenheim
Nach meiner Entlassung fand ich übrigens in meinem Hotel den gleichen Komfort wie im Krankenhaus vor! Neben der Gefahrenmeldung mit dem Telefon gab es ein entsprechendes Lichtzeichen. Das Wecken mit Telefon erfolgt ebenfalls mit einem Lichtsignal.
Mir wurde dann noch berichtet, daß auch Seniorenheime ebenso mit Hilfen für Hörgeschädigte ausgestattet seien, da etwa 30 bis 40% der dort lebenden Senioren nachweisbare Hörschädigungen aufweisen. Sogar die Pflegekräfte sollen über den Umgang mit hörgeschädigten Patienten Bescheid wissen, das konnte ich fast nicht glauben. Denn normalerweise ist weder die Ausstattung von Seniorenheimen auf die Bedürfnisse hörgeschädigter Senioren hin abgestellt, noch hat das Pflegepersonal sonst Zeit für die mitunter langwierige Kommunikation mit einem Hörgeschädigten! Ein Besuch in einem Seniorenheim bestätigte jedoch, daß die volle Integration hörgeschädigter Senioren bei gutem Willen möglich ist.
Gefahrensignale
Besonders schön war es, daß überall dort, wo es üblicherweise akustische Gefahrensignale gibt, auch sichtbare Zeichen installiert waren. Dies ist sehr wichtig, denn viele Hörgeschädigte können weder Heultöne noch Telefonklingeln hören und sind im Gefahrenfalle außerordentlich gefährdet.
Hörgeschädigtengerechte Weiterbildungsangebote
Weiter stellte ich fest, daß etliche allgemeinbildenden und beruflichen Weiterbildungsangebote in verschiedenen Einrichtungen hörgeschädigtengerecht offeriert werden, wobei auch Umschulungsmaßnahmen für Hörgeschädigte angeboten werden, die erst im Erwachsenenleben erlaubten und bisher höherqualifizierte Berufe ausübten. So etwas gibt es in meiner Heimatstadt überhaupt nicht, das war ein toller Fortschritt!
Prävention von Hörschäden
Sehr begeistert haben mich die Maßnahmen zur Prävention von Hörschäden. Die Stadt informierte nicht nur über Schutzmaßnahmen bei Lärm am Arbeitsplatz und bei Freizeitlärm, sondern sorgte für besondere Schulungen für Jugendliche, deren Gehör in Discos, Rock-Konzerten oder durch Stereo-Anlagen oder Walkmen stark gefährdet wird. Darüber hinaus wurden Grenzwerte für Lärm festgelegt, die nicht überschritten werden dürfen. Zusätzlich gab die Stadt Informationen über gehörschädigende Lebens- und Genußmittel oder Medikamente heraus und legte Vorsorgemaßnahmen für alle Lebensalter fest und baute die notwendigen Einrichtungen. Durch dieses Maßnahmebündel erreichte die Stadt einen enormen Rückgang an Fällen von Lärmschwerhörigkeit, Hörstürzen und Ohrgeräuschen.
Kostenübernahme für Hörhilfen
Natürlich hat die Stadt mit großem Erfolg Hörgeräteträger in ihrem Kampf gegen die Festbeträge bei der Hörgeräteversorgung unterstützt und erreicht, daß Hörgeräte und Batterien wieder voll den Krankenkassen übernommen werden müssen. Nun müssen ältere Menschen mit geringen Renten nicht mehr schlechter hören, weil sie sich nicht die optimal zu ihrer Hörschädigung passenden Hörgeräte nicht leisten können. Schließlich kann nicht jeder 5.000 bis 7.000 DM für 2 Hörgeräte locker machen. Eine wahrhaft humane Haltung der Stadtväter, für die der Mensch im Mittelpunkt steht und nicht ausschließlich die Finanzen!
Hörgeschädigten-Beratungs- und Informations-Zentrum (HÖRBIZ)
Sehr neidisch wurde ich, als ich das Hörgeschädigten-Beratungs- und Informations-Zentrum (HÖRBIZ) dieser Stadt kennenlernte. Diese Einrichtung dient sowohl der Beratung, Weiterbildung und Begegnung von Betroffenen und deren Angehörigen als auch der psychotherapeutischen Betreuung Hörgeschädigter mit speziell ausgebildeten Kräften. Kulturelle Angebote für Hörgeschädigte können hier ebenso stattfinden wie Übernahme von Aufgaben in den bisher vernachlässigten Bereichen der Wohlfahrtspflege und Altenbetreuung – speziell für hörgeschädigte Senioren. Hierzu gehören auch Schulungen für das Pflegepersonal, die meist nur über sehr geringe Kenntnisse für den richtigen Umgang mit hörgeschädigten Patienten verfügen. Weiterhin dient das HÖRBIZ als Gebärden-Dolmetscher-Zentrale zur Vermittlung von Gebärdendolmetschern für Gehörlose und Ertaubte. So etwas wünsche ich mir schon lange für meine Heimatstadt, aber da wird leider mit dem Geld geknausert und der Bedarf geleugnet.
Stadtführer für Behinderte
Ebenfalls beeindruckte mich der Stadtführer für Behinderte dieser Stadt. Enthalten solche Hefte üblicherweise ausschließlich Angaben über rollstuhlfahrergerechte Gebäude, so waren hier auch Hinweise für Hörgeschädigte aufgeführt. Beispielsweise wurde informiert
über öffentliche Gebäude mit Hilfen für Hörgeschädigte,
eine Liste gab Auskunft, welche Behörden, Sorgentelefone etc. über Schreibtelefon oder Fax (mit Nummerangabe) erreichbar sind und
wo Schreibtelefone auszuleihen sind (z.B. Hauptpost) oder wo ein Fax-Gerät für Hörgeschädigte zur Verfügung steht.
Weiterhin waren die Gebärdensprachdolmetscher für Gehörlose aufgeführt, und auch
die Beratungsstellen für Hörgeschädigte mit Telefon/ Schreibtelefon/ Fax-Nr. und Sprechzeiten.
Ebensowenig fehlten Angaben über die örtlichen Hörgeschädigtenvereine, Selbsthilfegruppen und Kurse für Hörgeschädigte
oder hörgeschädigtengerechte Weiter- und Fortbildungsangebote.
Doch dann erwachte ich plötzlich endgültig – und ach, alle schönen Träume lösten sich in Nichts auf. Ich stand wieder in der rauhen Lebenswirklichkeit eines Hörgeschädigten – mit einer Behinderung, von der weder die Gesellschaft und noch die meisten Betroffenen etwas wissen wollen (weniger als 0,01% aller Hörgeschädigten in Deutschland sind organisiert!!). Oder sollte es doch irgendwann möglich werden, daß der eine oder andere Traumwunsch Wirklichkeit wird? Ich hoffe es, deshalb engagiere mich seit bald 20 Jahren zum Wohle hörgeschädigter Menschen – und werde weiterhin gemeinsam mit Freunden für unseren Wunschtraum kämpfen!
Rolf Erdmann 1999

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