Rezension „Das Stigma Schwerhörigkeit“

Unser Mitglied Rolf Erdmann hat zum Buch von Corinna Pelz folgende Rezension geschrieben:
Beim Hörgeräteakustikerkongress in Nürnberg wurde mir von Mitarbeitern des Median-Verlages das Buch „Das Stigma Schwerhörigkeit“ von Corinna Pelz mit der Bitte um eine Rezension überreicht. Da es sich um ein detailliertes wissenschaftliches Sachbuch mit vielen unterschiedlichen Aspekten handelte, dauerten kritische Durcharbeitung des Buches und Formulierung der Rezension – auch aufgrund meiner verschiedenen Aufgaben im Deutschen Schwerhörigenbund e.V. – einige Zeit.

Das Buch setzt sich aus 11 Kapiteln zusammen, deren Inhalt nachfolgend stichwortartig genannt werden soll. Es werden folgende Themen behandelt:

  • die Funktion des Gehörs, Arten und Ursachen von Schwerhörigkeit mit Schwerpunkt Altersschwerhörigkeit, die Anzahl schwerhöriger Menschen und die Hörgeräteversorgung,

  • das Wesen und Wirkung einer Stigmatisierung und das Stigma „Schwerhörigkeit“, das sich aus den Stigma-Formen „Behinderung“ und „Alter“ zusammensetzt,

  • wie gesellschaftliche Einstellungen entstehen und welche Möglichkeiten zu deren Veränderung vorhanden sind,

  • Vorstellung früherer Werbe-Maßnahmen der „Fördergemeinschaft Gutes Hören“ FGH und deren Bewertung,

  • Planung und Durchführung der Befragungen von Betroffenen, Entwicklung eines Fragebogens für Gruppen und Einzelpersonen, Ergebnisse und ausführliche Analyse der Aktionen,

  • die Kampagnen-Idee und deren Bewertung durch Besucher des Tags der Offenen Tür.

Jedem Kapitel sind die zugehörigen Literaturangaben nachgestellt, am Ende des Buches ist noch ein Gesamt-Literaturverzeichnis abgedruckt.

Bei diesem Sachbuch handelte es sich ursprünglich um eine Dissertation, also eine Doktorarbeit – somit um eine Arbeit mit einem hohen Anspruch an Recherche, Analyse und Darstellung. In der Tat liegt mit dem 288 Seiten umfassenden Buch eine fleißige Arbeit vor, das sehr viele interessante und zutreffende Aspekte rund um die Hörgeräteversorgung darstellt.

Dennoch bin ich der Meinung, dass diese Arbeit etliche Schwachstellen enthält, die den Wert der zentralen Schlussfolgerungen schmälern.

Sehr alte Quellen im Literaturnachweis

Zweifellos hat die Autorin eine sehr ausführliche und sicher langwierige Recherche in den einzelnen Themenbereichen durchgeführt, wie aus dem Literaturnachweis ersichtlich. Dennoch sehe ich gerade in diesem Bereich Recherche eine entscheidende Schwachstelle dieser Arbeit.

Nach meiner Feststellung waren 40% der im Gesamt-Literaturverzeichnis genannten Quellen bei Veröffentlichung des Buches älter als 20 Jahre.

Bei dem Literaturverzeichnis zum wichtigen Kapitel 3 mit dem Thema „Das Stigma Schwerhörigkeit und Hörgerät“ sind sogar 50% aller Quellenangaben 20 und mehr Jahre alt! Das bedeutet: Ein großer Teil der aufgeführten Zitate für Beschreibung und gesellschaftliche Bewertung der Stigmata „Schwerhörigkeit“, „Behinderung“ und „Alter“ stammen aus den 60er und 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts, nur wenige Teilaspekte wurden in jüngerer Zeit formuliert! Es hat den Anschein, als hätte die Autorin nicht ausreichend nach moderneren Auffassungen über diese grundlegenden Themenbereiche gesucht.

Die Zitate aus den in diesem Buch genannten Quellen erfolgen unkommentiert, was den Anschein erweckt, dass die Autorin sich deren Inhalte stillschweigend zu eigen macht und sie übernimmt. An keiner Stelle habe ich jedenfalls eine Abgrenzung der Autorin von ihren Quellen gelesen.

Themenbereich Hörgeräteversorgung

Sehr oft habe ich in Zusammenhang mit einer Hörgeräteversorgung das Wort „Hörgerät“ in der Einzahl gelesen, z.B.: „…dass die Lebensqualität durch ein Hörgerät deutlich verbessert werden kann“. Die Regelversorgung ist inzwischen eine beidseitige Versorgung, daher sollte grundsätzlich immer von „Hörgeräten“ (also im Plural!) geschrieben werden.

Die zitierten Meinungen über Hörgeräte als „Stigmasymbol“ sind 10 oder noch mehr Jahre alt und daher heute nicht mehr relevant. Damals gab es beispielsweise noch keine Bluetooth-Adapter zum Telefonieren mit dem Handy, die Hörgeräten sehr ähneln, oder das zwanglose Tragen von kleinsten Kopfhörern von Musikabspielgeräten.

Eine andere Schwachstelle sehe ich in der unkritischen Übernahme der Auffassungen und Annahmen der Hörgeräteindustrie und der Hörgeräteakustiker, z.B. in Bezug auf die mit 6% sehr niedrig angesetzte Zahl der sogenannten Schubladengeräte, was dem Interesse der Hörgeräteindustrie entspricht. Auch wird das von Hörgeräte-Herstellern postulierte Dogma von kleinen – kleinsten – unsichtbaren Hörgeräten immer wieder dargestellt und auf angebliche Wünsche der Betroffenen zurückgeführt. Hierzu mehr später im Text.

Themenbereich Stigmata Schwerhörigkeit und Alter

Nach Meinung der Autorin setzt sich das Stigma „Schwerhörigkeit“ aus zwei Stigmata zusammen, nämlich das Stigma „Alter“ und das Stigma „Behinderung“. Die Beschreibungen und Bewertungen dieser beiden Stigmata stellen somit zentrale Kernaussagen dieses Buches dar. Art und Wesen der Stigmata werden aus Zitaten in Studien oder Büchern anderer Wissenschaftler hergeleitet.

Wie oben erwähnt, ist ein großer Teil der genannten Quellen 20 und mehr Jahre alt. Diese Feststellung ist meines Erachtens deshalb so wesentlich, weil sich das gesellschaftliche Bild hinsichtlich des Alters und ebenso hinsichtlich der Behinderung seit den 60er und 70er Jahren sehr erheblich gewandelt hat. Zunächst zum Thema „Alter“.

Alte Menschen werden bereits seit etlichen Jahren als eine Generation wahrgenommen, die selbstbewusst und auch oft finanziell gut ausgestattet ein sehr aktives Leben führt, ehrenamtlich tätig ist, sich nach der Verrentung weiterbildet oder große Reisen unternimmt. Das früher, vielleicht noch in den 70er Jahren möglicherweise zutreffende Bild von „senilen, unselbständigen und zu betreuenden Menschen“ trifft heute allenfalls nur noch für eine Minderheit zu.

Daher empfinde ich mehrere Aussagen auf Seite 62 als total unverständlich. Zunächst schreibt die Autorin (ohne zu zitieren, also wohl aus eigener Erkenntnis): „Ältere Menschen weichen vom Normalen ab, da sie den zentralen Werten und Normen, die unsere Gesellschaft als Leistungsgesellschaft charakterisiert, nicht genügen.“ Das kommt mir ebenso vorurteilsbelastet vor wie die lustig gemeinte Devise junger Menschen in den beginnenden 70ern: „Trau keinem über 30!“ und hat meiner Meinung mit wissenschaftlicher Arbeit nichts zu tun.

Später heißt es auf der gleichen Seite: „Eine Analyse von Schulaufsätzen ergab, dass sich dieses Altersbild bereits bei Kindern nachweisen lässt.“ Die zugehörige Literaturangabe stammt aus dem Jahre 1968, der Satz wurde somit vor über 40 Jahren geschrieben!! Damals waren ältere Menschen tatsächlich alt – Menschen, die zwei Weltkriege und eine Hyper-Inflation durchlebt und durchlitten hatten und entsprechend gesundheitlich angeschlagen waren.

Dann beschreibt die Autorin das ihrer Meinung nach geltende Altenbild: „Nach dem vorherrschenden Altersstereotyp gelten alte Leute als gebrechlich, anfällig, vergesslich, passiv, intolerant, konservativ, verbittert und isoliert. Es wird (…) ein physischer Abbau und Verlust seelisch-geistiger Fähigkeiten assoziiert.“ Dieser rückwärts gerichtete Text spricht für sich, hier ist kein Kommentar mehr nötig. Hätte sich die Autorin doch die Mühe gemacht, etwas mehr zu differenzieren!

Nicht anders ist es bei der Behauptung auf S. 64, im Fernsehen würden alte Menschen „deutlich seltener und meist in Nebenrollen vorkommen“ (Zitat aus 1975) oder würden „in komischen Rollen als physisch, kognitiv oder sexuell unvermögend dargestellt“ (Zitat aus 1980). Diese Darstellung entspricht schon lange nicht mehr den tatsächlichen Gegebenheiten in Film und Fernsehen. Viele Filme beschäftigen sich sehr realistisch mit der heutigen Lebenssituation älterer Menschen, behandeln auch sensible Themen wie Liebe und Sex im Alter, die in der Vergangenheit als anrüchig angesehen und völlig ausgespart wurden.

Das Alter und das Dasein älterer Menschen ist heute wesentlich weniger stigmatisiert als es in jenen Jahren der Fall war, aus denen die Quellenangaben hauptsächlich stammen. Ausdruck dieser Entstigmatisierung sind auch politische Entscheidungen. Beispielsweise ist die beschlossene Rente mit 67 ein deutlicher Beleg dafür. Die Menschen werden immer älter – aber auch immer länger leistungsfähig.

Die heutige Situation älterer Menschen findet – da entsprechende Belege fehlen – in der Analyse der Autorin offenbar keine Berücksichtigung.

Themenbereich Stigmata Schwerhörigkeit und Behinderung

Beim Thema „Behinderung“ wird ebenfalls ein antiquiertes Behindertenbild entworfen, das mit den heutigen Gegebenheiten kaum Ähnlichkeit hat. Auch hier stammen die zitierten Quellen hauptsächlich aus den Jahren 1969 bis 1975.

Behinderte Menschen haben mit wachsendem Erfolg Gleichstellung, Selbstbestimmung und Teilhabe eingefordert. Diese an die Gesellschaft gerichteten Forderungen wurden von der Politik durch Änderung des Grundgesetzes und Verabschiedung etlicher Bundes- und Landesgesetze anerkannt und mit Leben erfüllt. Sehr wesentlich ist, dass diese Gesetze von den Behinderten und ihren Organisationen in ihrer Gesamtheit erreicht wurden, wenngleich sie erst nach langen Kämpfen und Diskussionen gegen Beharrungskräfte erzwungen werden mussten.

Mit diesen Gesetzen wurde das gesellschaftliche Bild auf behinderte Menschen völlig umgekrempelt. Behinderte sind nicht mehr – wie noch in den 70er und 80er Jahren – hilflose Betreuungsobjekte, die von der Gesellschaft ein Almosen zu erflehen haben. Sie sind heute oft als selbstbewusst handelnde Menschen anerkannt, die ihre Belange weitgehend selbst bestimmen und regeln.

Auf S. 84 erwähnt die Autorin Gleichstellungsgesetze, denen sie aber keine positiven Wirkungen zuschreibt. Sie befürchtet eher folgendes; „Staatliche Entstigmatisierung von Schwerhörigen führt jedoch möglicherweise dazu, dass sich Personen mit leichtem Hörverlust noch weiter von dieser Gruppe distanzieren. Somit tragen die Gesetze meines Erachtens dazu bei, dass der Hörverlust ignoriert wird und als Bagatelle bewertet wird, um nicht das Stigma Behinderung zu erleiden.“ Diese gegen Gleichstellungsgesetze gerichtete Haltung kann ich nicht im geringsten nachvollziehen. Denn schon immer sahen sich leichtgradig Schwerhörige als nicht schwerhörig an, sie wehrten jegliche Hinweise auf ihre Schwerhörigkeit und Hörgeräte stets als nicht erforderlich ab. Auf dieses Verhalten hatten und haben die Gleichstellungsgesetze keinerlei Einfluss.

Bei einem Zitat (auf S. 67) aus dem Jahre 1976 heißt es in Bezug auf Hörbehinderung: „Die sprachliche Abweichung bei Hörgeschädigten …“ Eine solche sprachliche Abweichung gibt es nur bei Früh-Schwerhörigen, nicht aber bei später Betroffenen, von denen das Buch vorwiegend handelt. Früh-Schwerhörige können sprachliche Probleme haben, gleichzeitig sind sie meist von Kindheit an gewohnt, Hörgeräte zu benutzen und auch deshalb nicht Gegenstand dieses Buches.

Ich stelle fest: Da die Grundlagen für die Definition der Stigmata „Alter“ und „Behinderung“ heute nicht mehr zutreffen, sehe ich die daraus folgenden zentralen Aussagen dieses Buches ebenfalls als zumindest teilweise unzutreffend an.

Das entspricht der Situation beim Bau eines Hauses: Werden verrostete Stahlträger beim Fundament eingebaut, wackelt am Ende das ganze Haus.

Und noch ein Hinweis: Behindert ist man nicht, Behindert wird man.

Weitere Schwachstellen

In diesem Buch werden viele Studien zitiert und so dargestellt, als enthielten diese wissenschaftlich fundierte, unumstößliche Aussagen. Als kritischer Leser möchte ich wissen: mit welcher Zielsetzung und in wessen Auftrag wurden die Studien durchgeführt? Meines Wissens werden Studien nicht selten so erarbeitet, dass das Ergebnis den Zielsetzungen der Auftraggeber entspricht.

Etliche Aussagen in diesem Buch erfolgen in englischer Sprache, die Autorin sah sich nicht veranlasst, sie ins Deutsche zu übersetzen. Als besonders kurios empfinde ich diese Handhabung auf Seite 62. wo der griechische Philosoph Aristoteles in englischer Sprache zitiert wird.

In diesem Buch werden sehr viele Diagramme dargestellt, in denen Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge beschrieben werden. Im Prinzip habe ich diese Darstellungsweise gut erklärend empfunden. Aber vom Layout gefielen mir diese Diagramme mit kleinster, fast nur mit einer Lupe zu lesender Schrift überhaupt nicht. Hier hätte sich die Autorin um eine andere, besser lesbare Darstellung bemühen sollen.

Weiterhin ist mir aufgefallen, dass in dem Buch vollständig Hinweise auf den Deutschen Schwerhörigenbund e.V. (DSB) und seine Landesverbände und Ortsvereine wie auch auf örtliche Hörgeschädigten-Selbsthilfegruppen fehlen. Lediglich auf Seite 65/ 66 ist zu lesen, dass die Gruppe der hochgradig Schwerhörigen „häufig in Verbänden organisiert ist und setzt sich dafür ein, dass sie im Rahmen von Gleichstellungsgesetzen und der Anerkennung von Schwerbehinderung einen sozialen Ausgleich erhalten. Sie betonen, dass sie behindert sind.“ Hiermit werden die Aufgaben des DSB genannt, ohne dass sein Name aufgeführt wird. Ich würde gern wissen: Warum verschweigt die Autorin den Namen DSB?

Auch auf Seite 56 wird von „Gruppengesprächen mit Seinesgleichen zu gemeinsamen Erfahrungsaustausch“ geschrieben. Genau das leisten Hörgeschädigten-Selbsthilfegruppen! Warum wird dieses Wort „Selbsthilfegruppen“ nicht erwähnt?

Zudem ist es mir unverständlich, dass die Autorin im Rahmen dieser Arbeit offenbar keinerlei Kontakt zu der Betroffenen-Organisation DSB aufgenommen hat. Sie hätte Kenntnisse erhalten können über die Wünsche der Hörgeräteträger an die Technik, welche weder von den Hörgeräte-Herstellern noch von den Hörgeräteakustikern beachtet werden.

Es muss darauf hingewiesen werden, dass sich der DSB seit vielen Jahren gerade bei dem Themenbereich Hörgeräteversorgung und deren Kosten sehr deutlich auf politischer Ebene, aber auch in Zusammenarbeit mit der Bundesinnung der Hörgeräteakustiker bemerkbar gemacht hat. Dies alles findet in diesem Buch keinerlei Erwähnung.

Ebenso vermisse ich das Wort „Audiotherapie“, die mit einer guten Hörgeräteversorgung einhergehen sollte. Es ist nicht ausreichend, Hörgeräte in die Ohren zu stecken – begleitende und nachgehende Maßnahmen sind erforderlich. Das findet nur am Rande Erwähnung, hätte aber gerade in diesem Buch erscheinen müssen. Wenn Akzeptanz von Hörgeräten Ziel dieses Buches war – gerade Audiotherapie trägt dazu sehr aktiv bei. War dies der Autorin unbekannt?

Bei der Beschreibung der psychosozialen Folgen der Schwerhörigkeit bleibt ein ganz wichtiger Name völlig unerwähnt: Herr Dr. Werner Richtberg, der in den 80er und 90er Jahren wegweisende Arbeiten zu diesem Themenbereich erarbeitet und veröffentlicht hat. Es ist mir unverständlich, dass die wichtigen Erkenntnisse von Dr. Richtberg, dessen Arbeiten in allen mir bekannten Büchern über Schwerhörigkeit zitiert werden, von der Autorin übersehen wurde. Ebenso wenig genannt wird die Arbeit von Frau Dr. Verena Fink, die im Jahre 1995 ein sehr wichtiges Buch über Schwerhörigkeit und deren Bewältigung geschrieben hat.

Eine falsche Angabe habe ich in S. 20 gelesen, wo behauptet wurde, dass „für eine Einschätzung nach dem Schwerbehindertengesetz (…) das Hörvermögen mit Hörgeräten berücksichtigt werden muss“. Tatsächlich ist das Hörvermögen ohne Hörhilfen maßgebend.

Anmerkungen zu den früheren Werbemaßnahmen, Befragungen und Analysen

In außerordentlich fleißiger und umfassender Weise werden die Werbemaßnahmen der FGH aus den Jahren 1966 bis 2000 beschrieben und bewertet. Es ist der Autorin ausgezeichnet gelungen, eine sehr interessante Darstellung zu erarbeiten. Vor allem die Hintergründe für die Wechsel der Werbeagenturen und deren unterschiedliche Zielsetzungen bei den Kampagnen sind sehr aufschlussreich.

Auch die Darstellung der Befragungsmethoden, die Erarbeitung eines Fragenkataloges und die Durchführung der Befragungen können von mir nur positiv bewertet werden. Der Fragenkatalog fand in der von mir moderierten Selbsthilfegruppe für Hörgeschädigte an der VHS Hannover so viel Interesse, dass die Teilnehmer/ innen zu einem Teil der Fragen schriftliche Antworten abgaben, die wir hinterher gemeinsam analysierten.

In Anbetracht der Teilnahme von lediglich 74 Personen an dieser Aktion Fragenkatalog, die aus der Datenbank des Hörzentrums Oldenburg rekrutiert worden sind, erscheint mir die sehr genaue und umfassende Analyse der Antworten mit exakten Berechnungen und Diagrammen durchaus überzogen, da bei einer so geringen Zahl von Teilnehmer/ innen ohnehin keine allgemeingültigen Erkenntnisse ableitbar sind.

An der „quantitativen Untersuchung“ mit einem 13seitigen Fragebogen nahmen 378 Teilnehmer/ innen teil. Die angeschriebenen Personen waren ebenfalls aus der Datenbank des Hörzentrums Oldenburg entnommen worden. Auch hier wurden umfassende Analysen der Antworten mit einer riesigen Fülle von exakten Berechnungen und Diagrammen durchgeführt, von denen man fast „erschlagen“ wird. Ohne Detail-Kenntnisse in der Wahrscheinlichkeitsrechnung können die Berechnungstabellen mit hochinteressanten Angaben über „Tests der Zwischensubjekteffekte“, „Quadratsummen“, „Signifikanz“ oder der „größten charakteristischen Wurzel nach Roy“ nicht verstanden werden. Bei Lesern einer Dissertation sind diese Kenntnisse wohl vorauszusetzen, beim Leser eines Sachbuches jedoch nicht. Daher müssten diese Begriffe ausreichend erklärt werden.

Ein wenig kritisch sehe ich die Form der Rekrutierung der Teilnehmer/ innen. Es handelte sich hierbei um Menschen, denen das Thema Hörschädigung geläufig sein dürfte. Zumindest liegt diese Vermutung nahe, da sie aus der Datenbank des Hörzentrums Oldenburg stammten. Das bedeutet, dass die vertretenen Meinungen keineswegs denen des Bevölkerungsdurchschnitts entsprechen, sondern denen besser über Hörprobleme informierter Kreise, und somit nicht als repräsentativ anzusehen sind.

Der Kampagnen-Entwurf

Als Entwurf einer Kampagne für Hörgeräte wird das Bild einer hübschen, lächelnden jungen Frau als Sympathieträgerin verwendet. Dagegen ist nichts zu sagen, es ist ein ansprechendes Foto, das den Betrachter positiv beeinflussen dürfte. Insofern ist der Zweck dieses Entwurfes gelungen. Inzwischen habe ich in der Zeitung dieser Idee nachgestellte Werbung gesehen, ebenfalls sehr nett. Offenbar kam diese Idee gut an.

Als besonders positiv sehe ich es an, dass ein junger Mensch gezeigt wird – das muss nicht immer eine Frau, sondern kann auch ein junger Mann sein, wie es in einer aktuellen Werbung erfolgt. Damit wird richtigerweise vermittelt, dass Menschen aller Altersgruppen schwerhörig werden können. Zu begrüßen wäre es daher, wenn auch Kinder oder Jugendliche, die unbefangen bunte Hörgeräte tragen, und auch die ältere Generation gezeigt wird – mit aktiv im Leben stehenden Menschen, wie in der damaligen Werbung mit Henri Nannen oder Bill Clinton.

Dennoch habe ich erhebliche Probleme mit dieser Werbung, und die betreffen den Text. Mich stört die Überschrift: „Gutes Hören muss man nicht sehen!“

Immer wieder hämmern die Hörgeräte-Hersteller den Schwerhörigen ein, dass Hörgeräte „klein“, „fast unsichtbar“ und „kosmetisch unauffällig“ sein müssten. Aus verschiedenen Gründen sehe ich die Miniaturisierung der Hörgeräte sehr skeptisch.

Zunächst ist festzustellen: Ganz kleine Hörgeräte erlauben aus Platzgründen nicht den Einbau der äußerst wichtigen Komponenten T-Spule und Audio-Eingang. Damit fehlen wichtige Komponenten, die einen Abbau von öffentlichen Kommunikationsbarrieren ermöglichen. Der – oft nach langen Kämpfen und viel Überzeugungsarbeit des DSB – erfolgte Einbau von Induktionsanlagen in Kirchen, Vortragssälen, Theatern, Verkaufs- oder Informationsständen ist für die Besitzer dieser kleinen Hörgeräte ohne jeglichen Nutzen. Mit anderen Worten: Hörgeräte ohne T-Spule und Audio-Eingang tragen zur öffentlichen Isolation ihrer Träger bei! Sie verhindern die Integration und Teilhabe schwerhöriger Menschen im öffentlichen Bereich. Kann das wirklich ein Ziel der Hörgeräte-Hersteller sein?

Jeder, der mit diesem Personenkreis zu tun hat, weiß, dass schwerhörige Menschen gern ihre Schwerhörigkeit verleugnen. Die Werbung mit „unsichtbaren Hörgeräten“ unterstützt diese – aus unserer Sicht – falsche Haltung. Die meist älteren Schwerhörigen fühlen sich bestärkt in ihrer Auffassung, dass Schwerhörigkeit ein Makel ist, das möglichst versteckt werden muss. Sie glauben, es ist besser, die Schwerhörigkeit zu verschweigen. Sie sehen nicht die Nachteile oder unterschätzen sie, die damit verbunden sind: die Missverständnisse und daraus erwachsenden Probleme, die das Leben und Beziehungen zu anderen Menschen erschweren.

Außerdem merkt jeder Mensch schnell, wenn er es mit einem Schwerhörigen zu tun hat – durch falsche, unpassende Antworten und Verhaltensweisen, durch Überhören von Tür- oder Telefonklingeln, durch zu lauten Fernsehton. Folge ist, dass sich Misstrauen in die Beziehung zu anderen Menschen einschleicht, da sich der Schwerhörige unehrlich verhält.

Hörgeräte-Hersteller glauben, dass sie schwerhörige Menschen durch die Werbung mit „unsichtbaren Hörgeräten“ zu deren Kauf ermutigen. Nach meiner Überzeugung ist das glatte Gegenteil der Fall.

Diese ständigen Werbehinweise auf die unsichtbaren Hörgeräte deuten auf einen Makel hin, den es angeblich zu vermeiden gilt. Derartige Werbung ist vollständig auf die negativen Gefühle der Schwerhörigen im Zusammenhang mit ihrer Behinderung ausgerichtet. Unterschwellig wird mit dem Wort „Unsichtbarkeit“ auf die meist unverarbeiteten Defizite der Hörgeräteträger hingewiesen. Es wird indirekt an schmerzliche Verluste erinnert, die mit der Schwerhörigkeit einhergehen.

Nach meiner Auffassung ist eine derart mit negativen Gefühlen besetzte Werbung kein positiver Kaufanreiz!

Bei der Werbung sollte differenziert werden zwischen erstversorgten und erfahrenen Hörgeräteträgern. Die unterschiedlichen Erwartungen beider Schichten sollten auch in der Werbung unterschiedlich angesprochen werden. Es kann nicht alles über einen Kamm geschoren werden, nämlich den Erwartungen der „Erstversorgten“.

Die meisten Menschen mit langjährigen Hörgeräte-Erfahrungen setzen jedoch andere Prioritäten. Ihnen kommt es weniger auf das Aussehen an, sondern vielmehr auf Technik, gutes Verstehen und erfolgreiche Kommunikation. Sie müssen und wollen ihre Schwerhörigkeit nicht verstecken, da sie gelernt haben, sich zu ihrer Behinderung bekennen und damit zu leben. Daher können sie offen mit ihren Hörgeräten umgehen und diese zeigen.

Und in dieser Zielrichtung sollte die Werbung für Hörgeräte ausgerichtet sein. Wie wäre es mit folgenden Werbeslogans: „Dies ist die Brille für meine Ohren“, „Mit meinen Hörgeräten kann ich Vorträge empfangen, weil es eine Induktionsspule enthält!“ oder „Ich telefoniere entspannter mit zwei Ohren, weil ich Hörgeräte mit Induktionsspule trage!“

Abschließende Anmerkungen

Leider hat sich die Autorin zu wenig mit der Angst vor Offenbarung der Schwerhörigkeit in der Gesellschaft und die Bewältigung der damit zusammenhängenden Probleme befasst. Zwar wird auf Seite 56 festgestellt, dass „es zunächst einmal zu der Ablehnung der eigenen Schwerhörigkeit kommt. Doch ab einem gewissen Schwerhörigkeitsgrad ist eine Neuidentifizierung unvermeidbar“. Leider wird dies nicht näher behandelt.

Das Hauptproblem ist die mangelnde Akzeptanz der eigenen Schwerhörigkeit. Dass das „Stigmasymbol“ Hörgerät zu wenig oder gar nicht angenommen wird, ist nicht das Hauptproblem, sondern ein Folgeproblem.

Diese Tatsache wurde bisher von Hörgeschädigten, Hörgeräteherstellern und Hörgeräteakustikern verwechselt und das ist auch bei dem vorliegenden Buch der Fall. Die Annahme von Hörgeräten steht und fällt mit der Annahme der Schwerhörigkeit.

Angesichts wachsender Zahlen schwerhöriger Menschen (bereits bei jungen Menschen werden Zahlen zwischen 20 und 30% genannt, bei denen Hörbeeinträchtigungen feststellbar sind), kann es gesellschaftlich nicht durchgehalten werden, diese vielen Millionen Menschen wie bisher auszugrenzen. Es sei denn um den Preis hoher gesamtgesellschaftlicher Kosten. Denn die Anerkennung und Einbeziehung schwerhöriger Menschen in Beruf und Gesellschaft ist kostengünstiger als deren Ausgrenzung.

Und es sind damit erhebliche Auswirkungen für Kauf und Nutzung von Hörgeräten verbunden. Wer sich angstfrei zu seiner Schwerhörigkeit bekennen kann, dem fällt es leichter, Hörgeräte zu kaufen und sie auch offen zu tragen.

Diesen Zusammenhang hat die Autorin nach meiner Meinung nicht erkannt und daher die falschen Rezepte verabreicht. Schade.

© Rolf Erdmann, Linzer Str. 4, 30519 Hannover, Tel./ Fax: 0511/ 83 86 523, e-Mail: erdmann.rolf@gmx.de

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