Zehn Thesen zur Frage Elternrecht oder Kindeswohl

Von Rolf Erdmann

VORBEMERKUNGEN

Die von der Deutschen Gesellschaft der Hörgeschädigten-Selbsthilfe und Fachverbände e.V. am 13.11.2010 beschlossene Resolution scheint mir tendenziell gegen das CI gerichtet zu sein.

In den nachstehenden Thesen lege ich meine Gründe dar, warum ich diese Resolution als eine sehr einseitige Stellungnahme ablehne.

GRUNDSÄTZLICHES

Das Zusammenleben in der menschlichen Gesellschaft ist in Gesetzen geregelt. Zu nennen sind die Menschenrechte der Vereinten Nationen, die relativ neue UN-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie das Grundgesetz und die in verschiedenen Gesetzbüchern zusammengestellten Gesetze.

Grundrechte sind z.B.

  • das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, aus dem sich ein Recht auf unbehinderte Kommunikation mit der Umwelt herleiten lässt,
  • das Recht auf Selbstbestimmung und Teilhabe in der Gesellschaft, unabhängig vom Alter oder einer Behinderung,
  • das Recht der Eltern, Pflege und Erziehung bei ihren Kindern auszuüben und über ihr Fortkommen zu entscheiden, bis diese dazu selbst in der Lage sind.

THESEN

  1. Das Elternrecht muss am Kindeswohl orientiert sein. Dieses Recht bedeutet ein sehr erhebliches Maß an Verantwortung für die Eltern. Fehlerhafte elterliche Entscheidungen können für die Kinder schwerwiegende lebenslange Folgen bedeuten, die u.U. später nicht mehr aufhebbar sind. Somit kann das Elternrecht in Konflikt stehen mit dem Kindeswohl als auch mit dem Kindesrecht auf Selbstbestimmung und Teilhabe. Daher ist eine sehr sorgfältige Abwägung geboten.
  2. Manche Eltern gehörlos geborener Kinder entscheiden sich aus ideologischen Gründen bewusst gegen eine CI-Operation. Begründet wird diese Entscheidung mit der Behauptung, dass eine solche Operation eine Körperverletzung bedeute.Niemand wird ein derartiges Argument verwenden, wenn ein neugeborenes Kind z.B. einen Herzfehler, eine Augenerkrankung oder körperliche Anomalien aufweist. In solchen Fällen werden in der Regel unverzüglich eine Operation oder andere Maßnahmen zur Behebung oder zumindest Milderung der Erkrankung bzw. Behinderung eingeleitet.
  3. Ratgeber, die den Eltern gehörlos geborener Kinder einreden wollen, mit der CI-Operation zu warten, bis das Kind selbst darüber entscheiden kann, können nur als Bauernfänger bezeichnet werden. Diesen Leuten ist wohlbekannt, dass eine CI-Operation nach dem 3. oder 4. Lebensjahr nur noch eine ganz geringe Chance bietet, hören und sprechen zu lernen.
  4. Ebenso wird behauptet, gehörlos geborene Kinder könnten ein gleichwertiges Leben in der Gehörlosengemeinschaft mit der „Gebärdenkultur“ führen.Bei diesem Argument handelt es sich um eine bewusste Irreführung, da damit für das gehörlos geborene Kind eine lebenslange Gettoisierung in der hörenden Umwelt verbunden ist.

    Selbstbestimmung und Teilhabe bleiben durch die Abhängigkeit von einer dritten Person, z,B. einem Gebärdensprachdolmetscher, teilweise auf der Strecke.

  5. Nach der UN-Behindertenrechtskonvention Artikel 24 besteht für behinderte Kinder ein Recht auf inklusiven, hochwertigen und unentgeltlichen Unterricht an Grundschulen und weiterbildenden Schulen. Nur mit der Fähigkeit zum Hören und Sprechen kann dieses Recht gut genutzt werden, um selbständig hohe Schulabschlüsse und gute Bildungschancen zu erreichen, wodurch eine beträchtliche Lebensqualität in anspruchsvollen Berufen möglich wird.Daraus folgt, dass gehörlos geborene, mit CI versorgte Kinder als Erwachsene in der Regel höhere Beiträge in die Steuerkassen und die Sozialsysteme einzahlen als gehörlos geborene Kinder, die gebärden-orientiert aufwachsen und daher meist weniger qualifizierte und niedriger dotierte Berufe ausüben.

    Die Aufwendungen für die CI-Operation und nachfolgende Habilitation amortisieren sich, da sie zu einem hohen gesamtgesellschaftlichen Nutzen führen. Dies ist wissenschaftlich erwiesen.

  6. Die beiden Sinne Hören und Sehen werden von der guthörenden Gesellschaft sehr unterschiedlich bewertet. Dem Sehen wird ein wesentlich größeres Gewicht beigemessen als dem Hören, dies wird z.B. am nachlässigen Umgang mit Lärm deutlich.In ähnlicher Weise, aber aus anderen Gründen, bewerten viele gehörlose Menschen das HÖREN als unwichtig und nicht lebensnotwendig. Dies können erwachsene gehörlose Menschen jedoch nicht beurteilen, da sie nie in ihrem Leben gehört haben. Sie können daher nicht ermessen, was Hören im menschlichen Dasein bedeutet. Kulturelle Ereignisse wie Musik- oder Theaterveranstaltungen und die dabei erlebbaren Emotionen sind ihnen naturgemäß unbekannt.

    Umso befremdlicher sind Ausdrücke, die in Gehörlosen-Foren im Internet zu lesen sind: „starke Hörzentrierung“, „überhöhter Wert des Hörens“, oder gar der absurde Vorwurf des „Audismus“, womit „Rassismus gegen Gehörlose“ unterstellt wird.

  7. Die Evolution hat nahezu alle Lebewesen mit im Geschichtsverlauf immer komplizierter werdenden Gehörmechanismen ausgestattet – ein deutlicher Hinweis auf die lebenswichtige Funktion des Hörens. Ohne ein funktionierendes und feines Gehör wären Menschen schon vor Jahrtausenden ausgerottet worden durch feindliche Lebewesen wie wilde Tiere. Nur durch die Fähigkeit zum Hören konnten die Menschen die Gefahr rechtzeitig wahrnehmen und Maßnahmen zur Verteidigung oder Flucht treffen. Damals hatten hörgeschädigte Menschen sicherlich keinerlei Überlebenschancen.Auch in heutiger Zeit ist das Gehör lebensnotwendig. Beispiele sind der Straßenverkehr, aber auch das Berufsleben, welches der Existenzsicherung dient. Gerade hier wird die lautsprachliche Kommunikation immer wichtiger.
  8. In der UN-Behindertenrechtskonvention wird in Artikel 25 und 26 das medizinisch erreichbare Höchstmaß an körperlicher und geistiger Gesundheit und an Unabhängigkeit gefordert. Dieses erreichbare Höchstmaß wird gehörlos geborenen Kindern verweigert, wenn eine medizinisch indizierte CI-Operation auf Elternwunsch hin nicht erfolgt. Auf diese Weise wird den Kindern die Chance genommen, hören und sprechen lernen zu können.
  9. Die Verweigerung einer CI-Versorgung erfüllt den Tatbestand einer unterlassenen medizinischen Hilfeleistung. Das Elternrecht wird zu Lasten des Kindeswohls aus ideologischen Gründen missbraucht.
  10. Entsprechend dem Hippokratischen Eid ist es Aufgabe der Medizin, Erkrankungen und Behinderungen zu beheben oder zumindest zu mildern. Genau diesem Ziel wird ohne Zweifel bei einer CI-Operation gefolgt.Zu berücksichtigen ist darüber hinaus, dass sich aufgrund intensiver Forschungen die medizinischen Möglichkeiten ständig verbessern. Die Operationstechniken werden sanfter, die Hörergebnisse besser.

NACHBEMERKUNG

Um möglichen Missverständnissen vorzubeugen: Mit der vorstehenden Abhandlung stelle ich weder infrage, dass die in der UN-Behindertenrechtskonvention definierten Rechte vollständig auch für gehörlose Menschen zu gelten haben, noch dass sie ein zufriedenes, erfülltes und gleichberechtigtes Leben erreichen können.

Schreibe einen Kommentar